Literatur und Theater. Fulminanter „Lenz“. Cornelia Rainer zeigt beim Young Directors Project in Salzburg ein 100-Minuten-Furioso über den Sturm-und-Drang-Dichter Lenz – mit Markus Meyer als brillantem Protagonisten.
Eine Hochschaubahn aus Holz umrahmt die Bühne im Salzburger Republic: „Montagnes Russes“ hieß diese Rummelplatzattraktion in alter Zeit. So nennt sich auch die Gruppe, die seit Freitagabend beim Young Directors Project der Salzburger Festspiele die Uraufführung „Jakob Michael Reinhold Lenz“ zeigt. Der Pfarrerssohn und Dichter Lenz (1751–1792) verehrte Goethe, der ihn aber fallen ließ, weil Lenz sich der Hofgesellschaft nicht angemessen gekleidet präsentierte. Lenz verliebte sich in Goethes Freundin Friederike Brion, seine Leidenschaft blieb jedoch unerwidert. Lenz litt. Er gilt als Säulenheiliger wilder Künstler, sein bekanntestes Werk ist „Der Hofmeister“, den Brecht bearbeitete. Büchner schrieb über Lenz eine Novelle, in der er ein fundamentales Problem der Kunst abhandelt: Wie kann sie der Realität gerecht werden? Oder kann sie diese nur nachahmen?
„Sturm und Drang“ ist heute eine etwas staubige Station des Schulunterrichts – wiewohl sich ein Stürmer und Dränger der Moderne einer permanenten Renaissance erfreut: „Der Spiegel“ widmete Hermann Hesse eine Titelgeschichte. Tatsächlich widmete sich die Sturm-und-Drang-Bewegung Themen, die uns noch heute beschäftigen: Die Einsamkeit des Genies, des unkonventionellen Denkers, die Freiheit des Menschen, die Bedeutung der Religion.
Europa in der Krise. Zwei Jahrzehnte vor der Französischen Revolution stellten führende Intellektuelle wie Goethe oder Schiller im kleinstaatlichen Deutschland die Frage nach den Grenzen, Mängeln von Aufklärung, Verstand, Vernunft. Sie begeisterten sich für das reine Gefühl und attackierten den Feudalismus. Alle diese gesellschaftlichen Verwerfungen schimmern im Drama „Lenz“ durch.
Diese Kreation erfüllt nicht nur den Bildungsauftrag, sie ist künstlerisch außerordentlich gelungen und blendend besetzt. Die 1982 in Lienz, Osttirol, geborene Cornelia Rainer, die auch Musikerin ist bei der witzigen Musicbanda Franui, die den Begriff Volksmusik dehnt und verfremdet, begab sich auf Spurensuche in den Elsass, wo Lenz 1778 drei Wochen beim protestantischen Pfarrer Oberlin und seiner Familie Station machte, um seine seelischen und geistigen Probleme zu lösen, zur Ruhe zu kommen.
Im kargen Steintal durchlebt Lenz, trotz der Fürsorge und des geistlichen Beistands der Pfarrersfamilie, eine schwere Krise. 41-jährig stirbt er später in Moskau auf der Straße. Schon das Eröffnungsbild der Aufführung ist grandios: Lenz liegt, schreibt dann manisch auf den Boden, während eine Trommel seine inneren Stimmen illustriert. Der Trommler klöppelt wie prüfend das Gerüst der Hochschaubahn ab, der Wirbel schwillt auf und ab, bis er das Ohr peinigt. Aurel Lenfert (Bühne, Kostüme) hat mustergültig das Ambiente der damaligen Zeit rekonstruiert: vom Talar des Pfarrers über die Töpfe mit Kartoffeln bis zur Wasserbadwanne auf dem Holzherd.
Ringen mit Gott. Markus Meyer ist als Lenz hinreißend: einmal grämlich, einmal überschäumend, gepeinigt vom Zwiespalt zwischen absoluter Freiheit, einer bürgerlichen Existenz und Glaubensverlust, quält sich der Gefährdete ab, springt in kaltes Wasser, stürzt sich aus dem Fenster und hängt schließlich gar verkehrt vom Gerüst der Hochschaubahn. Es schien ja kaum möglich zu sein, dass Meyer, Burgschauspieler, u.a. in Bosse- und Breth-Inszenierungen zu sehen, seine Meisterschaft in der Gestaltung androgyner, nervöser junger Männer (Cassio, Dorian Gray) übertrifft, aber es sind immer noch Steigerungen möglich. Phänomenal.
„Übervater“ Oberlin (Manfred Böll) versucht seinen Schützling zu bändigen, er gleicht Lenzens Vater, aber auch dem Idol Goethe. Ein neuerlicher Bruch in Lenzens Leben, bestimmt vom Aufbegehren gegen die alte Ordnung, ist psychologisch unausweichlich. Oberlin „kuriert“ freilich mit der Seelsorge auch seine eigenen Gefährdungen, Ehefrau (Gertrud Roll) und drei Söhne stabilisieren ihn. Für die Magd (Karoline Niederhuber) ist der ekstatische Eindringling schlicht der Teufel.
Endlich einmal wird auf einer Bühne der Glaube, die Religion als geistige Kraft ernst genommen und nicht lächerlich gemacht. Dadurch stimmt nicht zuletzt die dramaturgische Gewichtung. Lenz entfernt sich, obwohl er das nicht will, immer weiter von Gott, und als er zurückkehren will, stellt er fest, dass dies unmöglich ist. Das ist völlig moralfrei dargestellt – und der Weg vieler „Fernstehender“ heute.
„A star is born“, könnte man über Cornelia Rainer sagen, allerdings hat sie schon vieles gemacht, auch inszeniert, im Burgtheater-Vestibül, im Hamburger Thalia Theater. Dieser „Lenz“ besticht nicht nur durch Genauigkeit in der Milieuschilderung, großartig musikalisch untermalt mit alten Weisen(„Wer nur den lieben Gott lässt walten“), er ist ein Gesamtkunstwerk über eine wichtige Epoche Europas: ideenreich, aber nicht kopflastig, unsentimental, aber nicht steril-kalt, luftig, stimmig, klug.